Was geht?

08. Juli 2023

Wort zum Sonntag

Kathrin Wiggermann; Foto: privat

am 8. Juli 2023

Abi geschafft, Realschulabschluss in der Tasche, ein Lebensabschnitt ist erreicht – und nun?

Alles ist möglich.

Sommerferien stehen an. Endlich mal Zeit am Stück, die man selbst gestalten darf. Wozu habe ich Lust?

Das Leben in seinem Reichtum liegt vor uns.

Das ist die eine Seite. Die andere gibt es aber auch:

Was, wenn ich keine Idee habe, was ich mit meinem Leben machen soll, wenn die Schule vorbei ist? Will ich eine Ausbildung, ein Studium beginnen? Schaffe ich das? Reicht mein Abschluss? Oder mache ich ein Jahr lang etwas ganz anderes?

Urlaub ist schön, aber kann ich ihn mir leisten? Manche Lieblingsziele sind nur mit dem Flugzeug zu erreichen – aber kann man Fliegen überhaupt noch verantworten in unserer Zeit?

Das Leben mit seinem Reichtum kann auch überfordern.

„Gott, du stellst meine Füße auf weiten Raum.“, betet ein Mensch in Psalm 31. Seine Worte sind 2500 Jahre alt, aber das Lebensgefühl kannte der wohl auch: ich kann hierhin gehen oder dorthin. Freiheit ist mir geschenkt, Dinge zu tun und Dinge zu lassen.

Ambivalenz heißt die Reaktion auf die vielfältigen und vieldeutigen Möglichkeiten, die das Leben uns bereithält: das gleichzeitige sich angezogen und sich abgeschreckt Fühlen.

Ein Mensch kann große Lust empfinden, seinen Urlaub zu gestalten, und gleichzeitig abgeschreckt sein von den vielen Möglichkeiten und der Entscheidungslast. In Urlaubsfragen ist das auf den ersten Blick wahrscheinlich Leiden auf hohem Niveau. Wenn es aber um existenzielle Fragen geht, wie die Berufsfindung, dann kann Ambivalenz einen Menschen auch quälen.

Nach dem polnischen Soziologen Zygmunt Baumann gilt Ambivalenz als Signatur der Postmoderne. Er spricht vom „Ende der Eindeutigkeit“ in unserer Zeit. Auch diese Beschreibung ruft schon wieder Ambivalenz hervor: einerseits liegen in der Vieldeutigkeit der Weltwahrnehmung großer Reichtum und Liberalität. Andererseits sehnen sich immer mehr Menschen nach Klarheit und Eindeutigkeit, möchten ein vereinfachtes Leben, klare Entscheidungen (auch politisch), wünschen sich nicht selten einen Anführer, der sagt, was richtig oder falsch ist.

Gott stellt unsere Füße auf weiten Raum. Damit überlässt er uns einer Freiheit, die gleichzeitig Geschenk und Herausforderung ist. Die Frage ist, wie wir das bewerten: als Last oder als Lust an der Gestaltung, als Überforderung oder als Quelle unserer Lebendigkeit und als Gegenpol zu Erstarrung und Fundamentalismus. Fragen über Fragen – aber vielleicht haben wir ja gerade jetzt ein wenig Zeit zum Nachdenken.

Pastorin Kathrin Wiggermann, St. Michaeliskirchengemeinde, Diepholz