Wie liegt die Stadt so wüst…

19. März 2022

Wort zum Sonntag

am 19. März 2022

Im Jahr 1874 komponierte Modest Mussorgski den imposanten Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“. Die einzelnen Sätze beziehen sich dabei auf Gemälde und Bilder seines im Vorjahr verstorbenen Freundes Viktor Hartmann; Bilder, die sich ihm auf einer Gedächtnisausstellung tief eingeprägt hatten. Die 10. Klaviermeditation in die-sem Zyklus bezieht sich auf einen kolorierten zeichnerischen Entwurf für ein Stadt-tor mit Glockenturm und einer kleinen Kapelle im Innern. Das Klavierstück ist beti-telt: „Das große Tor von Kiew.“
 
Musssorgski und die vielen Komponisten, die sich mit diesem Klang- und Bildzyklus auseinandergesetzt haben, haben wohl niemals geahnt, dass Kiew einmal Schau-platz eines erbitterten Krieges sein würde, eines unmenschlichen Krieges, bei dem wir heute Zeitzeugen sind.
 
Fassungslos richten wir gegenwärtig unseren Blick nach Osten und ersehnen ein bal-diges Ende dieser Hölle des Grauens. In Gedanken und Gebeten sind viele von uns bei denen, die ihre Toten beklagen und nichts sehnlicher erhoffen als Frieden. Selbst wenn wir versuchen zu vertrauen auf die helfende Kraft des Gebetes, fehlen uns dazu oft genug die Worte und Töne.
 
Die uns in den Klageliedern des Jeremia in der Karwoche vor Augen geführten Bilder von der zerstörten Stadt Jerusalem bekommen in diesen Tagen für uns eine unge-heuer schmerzliche Aktualität durch erschütternde Szenen aus den Städten der Uk-raine. Jerusalem ist überall.
 
„Wie liegt die Stadt so wüst …“ - so ist auch der Titel einer Karfreitagsmotette von Rudolf Mauersberger.
 
„Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war! All ihre Tore stehen öde. Wie liegen die Steine des Heiligtums vorn auf allen Gassen zerstreut … Ist das die Stadt von der man sagt, sie sei die schönste, die allerschönste, der sich das ganze Land freuet? Sie hätte nicht gedacht, dass es ihr zuletzt so gehen würde. Sie ist ja zu gräulich heruntergestoßen und hat dazu niemand, der sie tröstet. Darum ist unser Herz betrübt und unsere Augen sind finster geworden: Warum willst du unser so gar vergessen? Bringe uns wieder zu dir. Erneue unsere Tage wie vor alters … Ach Herr, sieh an mein Elend!“
 
Ansgar Stolte, kath. Pastor von Barnstorf, Diepholz und Sulingen