Eine Zugfahrt später

15. November 2025

Wort zum Sonntag

Hendrik Hundertmark

am 15. November 2025

Im November hat sich geschichtlich gesehen vieles ereignet. Gerade der 9. November war in der deutschen Geschichte oft ein entscheidender Tag. An diesem Tag ist Schreckliches und Schönes passiert. Es wurde an diesem Tag in Deutschland die Republik ausgerufen, an diesem Tag war die Reichspogromnacht mit allen ihren schrecklichen Verbrechen, die an jüdischen Menschen begangen wurden, und an diesem Tag war der Mauerfall. Gerade das letztgenannte Ereignis ist in unserer jüngeren, eigenen Familiengeschichte sehr präsent.

An dem Tag des Mauerfalls, am 9. November, fuhr der Cousin meines Vaters mit dem Zug von Leipzig nach Hannover. Er fuhr vormittags los und sollte abends ankommen. Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben die Erlaubnis bekommen aus der DDR auszureisen. Mein Opa hatte Geburtstag und daher durfte er die DDR für dieses Fest zeitweise verlassen.

Der Zug fuhr los. Die Fahrt war ungewöhnlich, denn als der Zug schließlich die Grenze passierte und in Westdeutschland ankam, standen jedes Mal, wenn der Zug hielt, Scharen von Menschen. Sie jubelten, sie grölten und er fragte sich: „Sind denn alle Menschen in Westdeutschland betrunken? Ist das immer so hier?“

Er kannte Westdeutschland ja noch nicht. Es war seine erste Reise in den Westen. Könnte ja sein. Smartphones gab es noch nicht. Er konnte nicht im Internet Nachrichten anschauen oder lesen. Schließlich kam er dann am Abend, es war schon dunkel, in Hannover an. Dort wurde er von meinem Vater mit dem Auto abgeholt und der sagte ihm: „Die Mauer ist gefallen!“

Ich höre die Geschichte gerne. Zwar ereignete sie sich vor meiner Geburt, aber sie zeigt für mich, wie schnell sich das Leben ändern kann. Viele Menschen hofften, bangten und beteten, dass es die Wende geben möge. Nun war diese Wende Realität. In Psalm 77 heißt es: „Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu Gott rufe ich, und er erhört mich.“ Nicht immer fühlen wir uns von Gott erhört. Manche Gebete bleiben für lange Zeit – vielleicht sogar für immer – unerhört. Doch die Hoffnung auf eine positive Veränderung dürfen und sollen wir unser ganzes Leben haben. Manchmal kommt die Wende im Leben nur eine Zugfahrt später.

Hendrik Hundertmark
Pastor in der Ev.-luth. Kirchengemeinde Lemförde