am 18. Oktober 2025
Seit einiger Zeit frage ich mich, was ich in meinem letzten „Wort zum Sonntag“ schreiben soll. Es sind zu viele Gedanken in meinem Kopf. Um Ordnung in meine Gedanken zu bringen, schaue ich mir intuitiv den Wochenspruch für die kommende Woche an. Dort steht: „Wer Gott liebt, der muss auch seinen Bruder und seine Schwester lieben.“ Dreimal atme ich tief durch und lese den Vers erneut und merke sofort, dass die Aussage aus dem 1. Johannesbrief 4,21 passt. Der Text beginnt mit den starken Worten: „Lasst uns einander lieben, denn Gott hat uns zuerst geliebt.“ Das ist die Voraussetzung, überhaupt erst die Liebe Gottes zu empfangen, damit wir sie weitergeben können. Klingt logisch. Doch Moment: Der Text spricht sogar von Hass gegenüber seinen Geschwistern. „Wenn einer behauptet, `Ich liebe Gott´, und dabei seinen Bruder hasst, dann lügt er.“ Das ist krass. Die Bibel bleibt hier ehrlich und menschlich: Hass, Neid und Falschheit machen auch vor kirchlichen Mauern nicht halt. Christen sind schließlich auch Menschen mit Fehlern und Schwächen. Da hilft mir der Wochenspruch erst einmal nur bedingt. Das Wort „muss“ stört mich ebenfalls in der Aussage. Was ist das für eine Liebe, die sich fast wie ein Befehl anfühlt? Das wirkt seltsam. Daher schlage ich vor, das Wort „muss“ durch „wird“ zu ersetzen. So klingt es: „Wer Gott liebt, der wird auch seinen Bruder und seine Schwester lieben.“ Anders gesagt: Wir können und wollen dann nichts anderes, als zu lieben. Tja, leicht gesagt. Und wenn es doch nicht klappt? Vielleicht liefert der erste Teil des Satzes die Antwort: „Wer Gott liebt…“ Um das geht es. Die Reihenfolge ist wichtig: Zuerst die Liebe zu Gott - um uns von ihm lieben zu lassen - und dann diese Liebe an andere weitergeben. Bildlich gesagt: Glaube und Liebe verhalten sich wie Ein- und Ausatmen. Gottes Liebe tief einatmen, um davon leben zu können. Wer einatmet, muss auch wieder ausatmen, sonst erstickt man. Das Ausatmen geschieht in der Liebe. Liebe nach dem Neuen Testament bedeutet: Das, was man von Gott empfangen und sozusagen „eingeatmet“ hat, an andere weiterzugeben. So ergibt es Sinn. Und was ist, wenn ich meine Geschwister nicht lieben kann oder will? Dann kehren wir zum Anfangssatz zurück und prüfen unsere persönliche Gottesbeziehung – in dieser Reihenfolge.
Michael Wendel, Pastor in Sulingen