Mutanten und Ringelrein

26. Juni 2021

Wort zum Sonntag

Diakon Rüdiger Fäth; Foto: Diakonisches Werk Diepholz - Syke-Hoya

am 26. Juni 2021

„Da hat Dich der Virus aber voll erwischt!“ sagt mir eine Nachbarin und drückt damit ihre Beobachtung aus, dass ich schon fast ein Vierteljahr zu Hause bin und nicht wie sonst morgens das Haus verlasse. Drei Wochen von dieser Zeit habe ich einer Quarantäneweisung des Gesundheitsamtes Folge geleistet, den Rest bin ich als einer der Long-Covid Gebeutelten arbeitsunfähig krank. Obwohl ich schon seit fünf Wochen in Besitz eines amtlichen Genesenennachweises bin, der mir fast überall bedenkenlosen Zutritt verschafft. Verrückte Welt!

Seit 14 Tagen sinken die Inzidenzwerte. „Sie sinken ins Bodenlose!“ titelt eine überregionale Boulevard-Zeitung. Seltsame Formulierung. Ist das nun Freude oder ist das Furcht vor dem Unaufhaltsamen?

Letztes Wochenende in einer mittelgroßen norddeutschen Kleinstadt: bei tropischen Vorabend-Temperaturen erhole ich mich als Long-Covider auf einer Bank der Fußgängezone. Grad mal 50 Meter Distanz geschaft und schon muss ich ruhig gegen die wieder mal aufsteigende Kreislaufattacke anatmen. Um mich herum etliche hundert von demaskierten Public-Viewern der EM, spürbar froh, die Maske endlich wieder fallen lassen zu dürfen und nationale Einigkeit in entsprechender Farbgebung zu zelebrieren. Da ist von dem gestern noch propagierten Abstand keine Spur. Das Zahlenspiel der Inzidenzen greift, diesmal ganz anders als bisher. Der Lockdown erfährt Lockerung, am offenen Ausschank wird wieder voll eingeschenkt, nicht nur auf der Fanmeile ballt sich das Volk.

Mir bringt das eher Furcht als Freude. Ich habe Angst, dass beim ausgelassenen nationalen Ringelrein auch die Mutanten tanzen, die neue Welle wächst. Bis zu meinem positiven PCR-Test auf SARS-CoV 2, war ich fast soweit, Corona für einen vorwiegend Internet-basierten Virus zu halten, digitalpandemische Infekthascherei sozusagen. Ich persönlich kannte nämlich keine akut Infizierten, dafür wurde ich aber zunehmend firm in Einsatz und Gebrauch von Onlinemeetings und Virtualkonferenzen. Maske trug ich eher brav als überberzeugt. Abstand hielt ich, weil ich`s grundsätzlich nicht mag, anderen auf den Pelz zu rücken. Seit meiner Infektion trage ich Maske immer noch ungern, aber aus Überzeugung.

„Es gibt neben der Impfung noch keine Medikamente, die ursächlich wirken“, sagt mir  mein Arzt, „man kann nur abwarten, dass es sich von selbst wieder legt und Symptomlinderung schaffen.“ Als Long-Covider werde ich die Symptome aber nicht los. Ich mache die Erfahrung: Corona verschwindet nicht so ohne weiteres. Was von selbst kam, wenn es denn überhaupt so sein sollte, vergeht nur selten auch wieder von selbst. Es gibt mir keine Sicherheit, wenn wir uns gegenseitig statistischer Wahrscheinlichkeiten versichern. Und das Einstimmen in die gemeinsame „Wir sind durch damit“-Hymne ist mir suspekt, bei allem Verständnis für Freudentaumel und Siegerlaune.

Denen, die sich bis hierher durchgebissen haben im Text, trotz steigender Enttäuschung ob der fehlenden Frömmigkeit im Wort zum Sonntag, winkt hier Erlösung. Etliche der Sprüche Salomos sind uns eher banale Alltagsätze gewordenen. „Wer zugrundegehen soll, der wird zunächst stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.“ und „Ein Geduldiger ist besser als ein Starker und wer sich selbst beherrscht, besser als einer, der Städte einnimmt.“ Ich wünsche Ihnen in diesem Sinne ein geduldig friedvolles, vorsichtiges Wochenende. Bleiben Sie bewahrt und gesund.

Rüdiger Fäth, Diakon im Kirchenkreis Diepholz